Berlin Gesture Center | Interdisziplinäres BGC-Kolloquium
Was New York City reflektiert: Autokarosserien als Medium
der Kommunikation
Eine PowerPoint-Foto-Präsentation von Roland Posner (Arbeitsstelle
für Semiotik, Technische Universität Berlin)
Einführung
Im späten 19. Jahrhundert begannen die Einwohner der wachsenden Metropolen
einen Mangel zu spüren, der ihre Lebensqualität zunehmend zu beeinträchtigen
schien: Ihre Stadt war so groß geworden, dass sie nicht mehr als solche
erfahren, ja nicht einmal mehr von irgend einem Punkt aus als ganze betrachtet
werden konnte. Diesem Mangel versuchte man zunächst durch architektonische
Lösungen abzuhelfen, indem man Wahrzeichen baute aus dem Häusermeer
herausragende Gebäude oder Denkmäler, die, im Fluchtpunkt breiter
Boulevards stehend, den Blick auf sich zogen und so das Ganze wenigstens symbolisch
verkörperten. Auf Weltausstellungen, beginnend mit der 500-Jahr-Feier der
Entdeckung Amerikas in Chicago 1893, wurden dann Ingenieurlösungen ausprobiert,
die vom städtischen Leben weit entfernte Aussichtspunkte vorsahen: ein
Riesenrad, ein Heißluftballon oder Zeppelin über der Stadt und ein
Funkturm in deren Mitte. Doch waren all diese Konstruktionen zu statisch und
zu sehr abgehoben vom rastlosen Treiben der Metropole, als dass sie dessen Vielseitigkeit
erfassbar und dessen Sinn erfahrbar hätten machen können.
Dem 20. Jahrhundert war es vorbehalten, ein geeignetes Instrument der Selbstwahrnehmung
für Großstädter zu entwickeln, das ihrem Bedürfnis nach
Selbstreflexion gerecht wird. Die Lösung des Problems bestand nicht im
Bau immer bombastischerer und immer weiter entfernter Aussichtspunkte, sondern
sie ergab sich von selbst im kleinen Maßstab und ganz in der Nähe.
Gemeint sind die Millionen Spiegelbilder, die ständig von den Autos, Lastwagen,
Bussen und Bahnen erzeugt werden, während sie sich durch den städtischen
Verkehrsraum bewegen. Tag und Nacht reproduzieren sie auf ihren Metallkarosserien
und Glasfenstern die städtische Umgebung, in der sie sich gerade befinden
sei es als Nebenprodukt der Fahrt auf den breiten Durchgangsstraßen,
sei es als Hauptzweck ihrer Bewegung über Boulevards und Plätze. An
die Stelle der erstarrten Gesten der mythischen Figuren auf den Denkmalssockeln
setzen sie bewegte Bilder der stehenden Gebäude, laufenden Passanten und
fahrenden anderen Autos. Statt genau eine Perspektive zu fixieren und genau
einen Blickwinkel festzulegen, bieten sie eine ständig wechselnde Vielfalt
der Perspektiven und Blickwinkel. Nur bestimmte öffentliche Verkehrmittel
wie die Taxis und die Untergrundbahnen erzeugen fast keine Spiegelungen, da
sie mit heller Farbe bemalt sind oder auf dunklen Strecken unter der Erde fahren.
In dieser Form hat heute jede Metropole ihr eigenes Medium der Selbstdarstellung
zur Verfügung. Es wird von ihrer Infrastruktur getragen und arbeitet verteilt
über die ganze Stadt. Es ist multipel individualisiert, allen zugänglich
und funktioniert weitgehend ohne amtliche Bevormundung, kann also als demokratisch
gelten. Auch wenn seine Wahrnehmung oft so stark automatisiert ist, dass sie
vielen Stadtbewohnern gar nicht mehr auffällt, bleibt dieses Medium doch
verantwortlich dafür, dass dem Großstädter etwas fehlt, wenn
er aufs Land fährt: der Eindruck eines dichten Lebens mit einer Fülle
von Möglichkeiten.
Eine Autokarosserie spiegelt nicht nur, sondern sie verarbeitet auch bis zu
einem gewissen Grade, was sie zeigt: sie färbt, hellt auf oder verdunkelt;
verzerrt, zerteilt oder vervielfältigt; verdünnt oder verdickt; lässt
schrumpfen oder wachsen, implodieren oder explodieren, was dem Auge sonst nur
in unverarbeiteter Form zugänglich ist. Und diese visuelle Verarbeitung
ist es, die prägt, was Bewohnern und Besuchern als ihre Stadt erscheint.
Der Vortrag dokumentiert in einer Reihe von Fotos die automobilen Selbstreflektionen
von Manhattan und Umgebung. Er liefert Beispiele für die dynamischen Visionen,
die ein New Yorker täglich von seiner Stadt geboten bekommt.
* * *
|
|
|
|
|
|
|
|
Automobile Selbstreflexionen in Frankfurt (Oder) fotografiert von Roland Posner